aus: fs - freizeit im sattel / Dezember 2003 


Wenn sich Ihr Pferd nicht einfangen lässt…

…dann traut es Ihnen nicht

von Heinz Welz

Dass Pferde sich nicht gerne von der Wiese holen lassen, ist ein am weit verbreitetes Problem. Manche Pferde lassen sich aber auch nicht gerne aus der Box oder vom Paddock holen. Grundsätzlich liegt dem Verhalten dieser Pferde ein sichtbares Beziehungsproblem zwischen ihnen und dem Menschen zugrunde. Die Frage ist: Mag Sie Ihr Pferd, und: Mögen Sie Ihr Pferd? Sagen Sie nicht sofort: „Aber selbstverständlich mag ich mein Pferd!“ Mögen Sie es wirklich? Wir Menschen sind große Könner im Verwechseln von Wunsch und Wirklichkeit. Zumal dann, wenn wir starke Eigeninteressen verfolgen. Dann verbiegen wir die Wirklichkeit auch schon mal gern. Fakt ist: Wenn sich Ihr Pferd von Ihnen abwendet oder gar davon rennt, wenn es die Freiheit dazu hat, dann ist das ein unübersehbares Zeichen dafür, dass seine Sympathie zu Ihnen begrenzt ist – ob Ihnen dass nun gefällt oder nicht.

Also: Mögen Sie Ihr Pferd? Sind Sie es, der das Pferd füttert, oder überlassen Sie das einem anderen? Und wenn Sie es reiten, vor die Kutsche spannen oder sonst wie nutzen: Sind Sie sicher, dass Sie Ihr Pferd dabei angemessen fordern, dass Sie es nicht – um Ihren Spaß zu haben, aus Unwissenheit oder Ehrgeiz - überfordern, oder ihm gar Schmerzen zufügen? Wissen Sie genau, wie man Pferde motiviert? Loben Sie ausreichend, zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Weise? Pflegen Sie die Beziehung zu Ihrem Pferd - auch wenn es nicht um den reinen Nutzen geht, also: Streicheln Sie Ihr Pferd beispielsweise re-gelmäßig, ohne irgendetwas von ihm zu wollen?

Pferde wollen wissen, woran sie sind

Ob Ihr Pferd Sie mag, ist die nächste – noch pikantere Frage. Die Antwort hängt wesentlich von der ersten Antwort ab: ob Sie Ihr Pferd mögen. Jetzt kommt aber noch etwas hinzu: Die Zuneigung von Pferden ist eng verknüpft mit dem Respekt, den sie vor anderen haben. Statt Respekt kann man auch Anerkennung sagen. Den Respekt von Pferden verdienen wir uns dadurch zusätzlich, dass wir Klarheit und Führungskraft ausstrahlen. Pferde möchten wissen, wo sie bei uns ‚dran sind’, ob Sie uns nicht nur vertrauen können in Sachen Zuneigung, Futter und Pflege, sondern auch hinsichtlich Führung.

Die große Frage dabei lautet immer: Kann ich mein Pferd führen? Das heißt konkret: Kann ich jeden Körperteil meines Pferdes dahin schicken, wohin ich möchte? Und: Kann mir mein Pferd folgen – und zwar in dreierlei Weise:

1. geistig - das heißt: versteht es mich, wenn ich etwas will? Bin ich klar in meinen Anweisungen?,
2. emotional - sagt es ‚ja’ zu mir, weil es mir in allen Belangen – in der Versorgung wie in der Sicherheit - vertraut? und
3. körperlich - bewege ich mich selbst zu Fuß und im Sattel so sicher, dass es sich bei mir sicher fühlt und mir freiwillig überall hin folgt?

Wo eine oder mehrere dieser Komponenten fehlt, da macht es aus Sicht des Pferdes Sinn, besser nicht folgsam zu sein. Zu erklären, was im Detail hinter Führung und Folgsamkeit steckt, und wie sie erreicht wird, welch eminente Bedeutung ‚Beziehung’ hat, füllt mehr als einen einzelnen Artikel und wurde in der FS von mir bereits ausführlich dargelegt (siehe Kasten). Hier soll es jetzt darum gehen, welche Techniken Sie anwenden können, um Probleme punktuell zu lösen.

Einem Freund, der mich um Rat bat, weil eines seiner vier Pferde sich auf der Weide nicht fangen ließ, gab ich folgende Tipps. (Welcher bei meinem Freund Erfolg hatte, das erfahren Sie am Schluss):

Strategie 1: Futtereimer

Gehe eine Zeitlang zur Weide, nimm’ Futter in einer Schüssel mit, bleib’ am Tor und raschele mit den Leckerbissen. Kommt die Stute hinzu, lasse ihr den Vortritt, füttere und streichele sie. Ignoriert sie den Lockversuch, wechsele über zu Strategie 2.

Strategie 2: Ignorieren

Gehe eine Zeitlang auf die Weide und ignoriere das Pferd. Verschwende keinerlei Ge-danken an die Stute. Geh’ gezielt zu den anderen Pferden, streichele sie, bewege Dich ein bisschen um sie herum. Vielleicht nimmst Du Futter mit und reichst es den Dreien. Gesellt die Stute sich hinzu, so nimm es lediglich zur Kenntnis, fasse sie aber nicht an. Bleibt sie weg – kein Problem. Schau auf keinen Fall zu irgendeinem Zeitpunkt zur Stute hin. Ignoriere sie einfach. Und dann gehst Du wieder.

Nach dem dritten Mal auf der Weide, fang an, auf mögliche Veränderungen zu schau-en: Verändert die Stute ihre Aufmerksamkeit oder gar ihren Standort? Schaut sie mehr oder weniger? Nähert sie sich an oder entfernt sie sich? Werde aber nicht aktiv. Was sie auch tut: Lass’ sie. Wenn sich die anderen Pferde Dir vertrauensvoll annähern, kannst Du dem einen oder anderen ein Halfter anlegen. Streichele dieses Pferd dann ein bisschen, füttere es, nimm’ das Halfter wieder ab und geh.

Strategie 3: Streicheln auf Entfernung

Wenn die Stute bei diesem Verfahren mehr als drei Mal weg bleibt, dann beginne, sie auf Entfernung zu ‚streicheln’. Dazu brauchst Du Dich ihr nur zuzuwenden - egal wie weit sie von Dir weg ist. Fahre mit einer Hand sanft durch die Luft und tu so, als streicheltest Du sie tatsächlich. Steh’ dabei gelassen, schaue ihr nicht in die Augen. Lächele, singe oder pfeife eine Melodie. Stehe dabei nicht frontal zu ihr gewandt, sondern zeige ihr Deine Schulter. Das strahlt weniger Energie aus als Deine gesamte Körperfront, und Du schaust ihr nicht in die Augen.

Wenn Du siehst, dass sie stehen bleibt, dann nähere Dich langsam (nicht schlei-chend, sondern gemächlich) an, während Du sie ‚streichelst’. Läuft sie davon, wäh-rend Du näher kommst, dann gehe einfach mit. Sie wird bei Deinen saften Bewegun-gen sowieso nicht losstürmen, sondern lediglich ihren Ausweichabstand wahren wol-len. Sei geduldig und streichele, denke freundlich über sie, denn auch sie (wie alle Pferde, die uns fordern) möchte nur herausfinden, ob sie sich in Zukunft auf Dich ver-lassen kann: auf Dein Wissen, auf Deine Beherrschtheit und auf Deine Bewegungen. Möglicherweise wirst Du sie eine Stunde lang auf Entfernung streicheln ‚müssen’. Das ist keine verlorene Zeit, sondern aktive Beziehungsarbeit.

Wenn sie Dich dann an sich heran lässt, atme ruhig, biete ihr Deinen Handrücken zum Beriechen und vielleicht einen Leckerbissen. Streichele sie nun richtig und lass sie dann in Ruhe. Mach das an drei aufeinander folgenden Tagen. Erst am vierten Tag legst Du ihr ein Halfter an. Komme drei weitere Tage, leg ihr nur das Halfter an, streichele sie, füttere sie und geh’ wieder weg. Wenn das gut funktioniert, dann führe sie ein paar Mal mit Halfter und Seil bis zum Tor, streichele sie dort und entlasse sie wieder zu ihren Artgenossen.

Am Halfter, und dann...

Die nächste Stufe: Du führst das Pferd ein paar Mal in den Stall (oder dorthin, wo Du normalerweise sattelst, wo der Hufschmied arbeitet oder der Tierarzt). Füttere Dein Pferd dort mit ein paar Leckerbissen, streichele es ein paar Minuten sanft und freund-lich und führe es wieder zurück auf die Weide.

Strategie 4: Die anderen holen

Den letzten Tipp gebe ich nur der Vollständigkeit halber. Hole die drei anderen Pferde mit einem Helfer von der Weide. Lass’ sie wegführen und beobachte vom Tor aus das Verhalten der Stute. Stehe am Tor bereit, wenn das Pferd ebenfalls hinaus möchte. Möglicherweise identifiziert Dich die Stute auf diesem Weg als ‚Befreier’. Das ist aller-dings die unwahrscheinlichste Reaktion. Diese einfach gestrickte Vorgehensweise, die den Herdeninstinkt der Pferde ausnutzt, birgt jedoch das Risiko, dass ein ungestümes oder irritiertes Pferd gar nicht erst zum Tor rennt, sondern auf direktem Weg ver-sucht, zu seinen Artgenossen zu kommen und über den Zaun springt. Möglicherweise läuft es aber auch nur wiehernd am Zaun auf und ab, ohne Dich zur Kenntnis zu neh-men. Und ein selbstbewusstes Pferd lässt sich – umgekehrt – vom Abzug seiner Art-genossen möglicherweise überhaupt nicht beeindrucken und grast in Seelenruhe wei-ter.

Die ersten drei Strategien lassen sich gut miteinander kombinieren. Die vierte ist eine Hauruck-Methode, aber manchmal funktioniert sie auch. Mein Freund strahlte mich jedenfalls eine Woche später an. Ihm hatte die simpelste Strategie geholfen: Er war erstmals ohne jegliches Wollen in Bezug auf die Stute auf die Weide gegangen (Stra-tegie 2). So hatte er gelernt, dass es vor allem seine (fordernde) Energie gewesen war, die seine Stute jedes Mal zum Davonlaufen animiert hatte, wenn er die Weide betrat.

Ich selbst hatte bislang immer Erfolg mit dem ‚Streicheln auf Entfernung’, selbst bei Pferden, die monatelang auf der Weide verwildert waren, keine Menschenhand an sich heran ließen; bei den Dülmener Wildpferden ebenso wie bei einem Hannoveraner oder einem irischen Pony, das zuvor noch nie von Menschen berührt worden war. ‚Streicheln auf Entfernung’ ist nichts anderes als „indirektes“ Gefühl, wie wir es auch im Joining im Round Pen zum Beziehungsaufbau anwenden. ‚Streicheln auf Entfernung’ ist im Grunde vor allem aber nichts anderes als die Form von Kommunikation, die alle Lebewesen auf der Welt anwenden, wenn sie sich einander prüfend annähern: zunächst auf Distanz, mit Augen und Ohren, und dann erst durch Berührung, dem „direkten“ Gefühl.

Eine gute Beziehung durch Round-Pen-Arbeit

Alternativ zu den oben beschriebenen Verfahrensweisen – wenn sich das Thema noch nicht so krisenhaft zugespitzt hat, dass Sie jedes Mal die Hofbesatzung mitnehmen müssen, um Ihr Pferd einzufangen - tun Sie gut daran, ‚Joining’ zu üben, jene Verfahrensweise, die geradezu als Allheilmittel zu verwenden ist – wenn man sie richtig gelernt hat und sie beherrscht (siehe Kasten). Das Joining in einem Round Pen ist überdies eine der besten Möglichkeiten, an der Verbesserung Ihrer Beziehung und am Vertrauen Ihres Pferdes zu arbeiten, sowie sich und ihr Pferd fühlen zu lernen.

(Fotos: Till Schläger)

Strategie 5: Joining auf der Wiese

Um ein Joining auf einer großen Wiese zu absolvieren (Strategie 5), brauchen Sie allerdings viel Erfahrung und Cleverness. Vor allem müssen Sie sich gut auskennen im Austausch von indirektem Gefühl in den richtigen Körperzonen des Pferdes, sonst ist Ihr Liebling schneller über oder durch den Zaun, als Sie gucken können. Oder aber Ihnen geht nach zehn Minuten die Puste aus, und Ihr Pferd lacht sich ins Hüfchen. Zudem brauchen Sie disziplinierte Helfer, die sich ebenfalls auskennen.

Das Pferd dreht sich in der Box weg

Wenn ein Pferd Ihnen in der Box (das ist analog auch auf den Paddock zu beziehen) sein Hinterteil zuwendet, ist selbstverständlich Vorsicht angebracht. Denn dieses Pferd teilt Ihnen unmissverständlich mit: „Du interessierst mich nicht. Lass’ mich in Ruhe!“ Je nach Charakter und Temperament könnte es seine Abneigung auch mit seinen Hufen unterstreichen. In diesem Fall sollten Sie unbedingt ein langes Führseil zur Hand haben. Gerte oder Peitsche empfehle ich (mit einer Ausnahme) deshalb nicht, weil Pferde, die sich so verhalten, meist schon schlechte Erfahrungen mit derlei ‚Hilfsmitteln’ gemacht haben, und deshalb in dieser Situation eher noch aggressiver oder verschreckter reagieren.

Stellen Sie sich in die halboffene Tür, ohne die Box zu betreten. Je nach Eindeutigkeit der Situation bleiben Sie mit einem Bein draußen. Jetzt richten Sie Ihre Energie konzentriert auf die Hinterhand des Pferdes:

1. Schauen Sie dem Pferd zunächst intensiv auf eine Hinterhandseite, so als wollten Sie es dort beißen.
2. Wenn das zu keiner gewünschten Bewegung des Vierbeiners führt, lassen Sie das Seilende locker aus Ihrem Handgelenk Richtung Hinterhandseite schwingen.
3. Wenn auch das noch nicht reicht, schwingen Sie Ihr Seil mit mehr Bewegung aber immer noch leicht von oben nach unten Richtung Hinterhand.
4. Als stärkste Energie treffen Sie das Pferd leicht (!) seitlich an der Kruppe.

Erhöhen Sie Ihre Energie aber nur, wenn nötig, und beginnen Sie immer mit der geringst möglichen Energie, und das ist Ihr Körper und Ihr Blick.
Das Pferd hat nur die Möglichkeit,

• zu steigen oder ‚die Wand hochzugehen’,
• nach hinten auszukeilen oder gegen Sie zu drängen (was nur in den allerseltensten Fällen vorkommt), oder
• nach links oder rechts auszuweichen. Das ist das, was wir wollen.

Bei den beiden ersten Punkten sollten Sie sich – wenn Sie unsicher und unerfahren sind - fachliche Hilfe herbeiholen. Wenn das Pferd nach hinten auskeilt, steht der Fachmann oder die Fachfrau schon weit genug vom Pferd weg und könnte sogar nach hinten aus der Box hinaus. Drängt es rückwärts gegen die Seilenergie, so geht er ebenfalls raus und wedelt im schlimmsten Fall mit dem Seil durch die Boxenstäbe oder den Türspalt Richtung Hinterhand. Wenn das Pferd nach hinten drängelt, kann der Therapeut die Seilenergie durch Schwingen weiter erhöhen oder eine Gerte, eine Fahr- oder Longierpeitsche benutzen.

Wenn ein Pferd die Wände hochzugehen droht, aber auch beim ‚Schläger’ wird der Fachmann/die Fachfrau seine Energie eher reduzieren (!). Beim irischen Pony und einem Tinker-Jährling, die im wahrsten Sinn des Wortes die Wände hoch gehen wollten, hat mir wieder das ‚Streicheln auf Entfernung’ geholfen.

...und wendet sich zu

Sollte das Pferd seinen Widerstand (oder seine hilflosen Fluchtversuche) aufgeben, wird es stehen bleiben und sich zum Men-schen umdrehen. Wenn es in dieser Situation auch nur ein Ohr in Ihre Richtung dreht, reduzieren Sie Ihre Energie sofort auf Null: Senken Sie Ihren Blick, lächeln Sie und lassen Sie vor allem das Seil sinken. Ziehen Sie sich möglichst sogar einen Schritt zurück, raus aus der Box. Das machen Sie immer wieder, wenn das Pferd Ihnen ein körpersprachliches Signal gibt, dass es sich Ihnen zuwendet. Das kann das eine Ohr sein, ein kurzer Blick, oder ein Vorderhuf, der sich einen Zentimeter in Ihre Richtung bewegt.

Wendet sich das Pferd wieder ab, beginnen Sie Ihre Energiezufuhr wieder von vorn und wieder im geringst möglichen Maß. Hat sich das Pferd Ihnen vollends zugewendet, dann streicheln sie es ausgiebig (wenn es das mag), reichen einen Leckerbissen, oder sie lassen es in Ruhe. Üben Sie dies so oft Sie können, und machen Sie es dem Pferd angenehm, sich Ihnen zuzuwenden.