Grenzfälle
Grenzen sind wichtig in der Entwicklung von Mensch und Pferd. Sie sind aber auch bedrohlich. Lesen Sie hier, wie bedeutsam Grenzen für das Miteinander von Mensch und Pferd sind und wie man am besten mit ihnen umgeht.

Bald geht’s mit den Pferden wieder mehr nach draußen. Für die einen erfüllt sich bei ihren Ritten durch die Landschaft all das, was sie mit Pferden verbinden: Natur, Genuss, Bewegung, Harmonie; für andere beginnt ein alljährliches Horrorszenario zur Frühlingszeit: der Aufgalopp mit (aus Sicht der Pferde) „fröhlicher“ Buckelei.

Mal abgesehen davon, dass darin nicht nur Frühlingsgefühle bei unseren Vierbeinern zum Ausdruck kommen, sondern vor allem auch falsche Haltungsformen, so zeigt sich bei derlei Pferdeverhalten im Gelände vor allem eins: mangelnde Erziehung.

Buckeln – ebenso wie Durchgehen – markiert ja nichts anderes als eine Grenzüberschreitung. Beim Buckeln überschreitet das Pferd mithilfe seines Rückens die Grenze, die durch Sattel, Reitergewicht und Reiterwille gesetzt wird; beim Durchgehen ist es die Grenze, die durchs Gebiss gesetzt wird. Auch wenn Pferde gegen den Schenkel gehen oder sich „aufs Gebiss legen“– also vergleichsweise nur ein wenig vom Pfad der Tugend abweichen – überschreiten sie Grenzen.

Grenzüberschreitungen sind immer bedeutsam – im positiven wie im negativen. Der negativste Fall im menschlichen Bereich: Krieg. Aber auch Verbrechen gehören dazu. Verbrecher überschreiten ja auch Grenzen: die Grenzen der räumlichen oder gar körperlichen Unversehrtheit anderer, mit oft verheerenden Folgen.

Bei Kindern, vor allem in der Pubertät, gehören Grenzüberschreitungen hingegen zur Norm. Kinder wollen und müssen herausfinden, wie weit sie gehen können. Reife Erwachsene haben ihnen dabei zu helfen. Das nennt man Erziehung. Findet sie nicht oder falsch statt, können die Folgen schlimm sein.

Bei Pferden ist es nicht anders. Vor die Ausbildung gehört die Erziehung: Pferde

müssen lernen, die von Menschen gesetzten Grenzen zu respektieren. Tun sie’s nicht, dann gefährden sie nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Pferden ist das von Natur aus einerseits angeboren. Andererseits ist es widernatürlich für sie und bedroht – außerhalb ihres Artenbereichs – ihr Überleben.

Angeboren ist es, weil es unter Artgenossen genau darum geht: Grenzen zu akzeptieren. Pferde lernen es durch feinste körpersprachliche Signale – vom „scharfen“ Blick, übers Ohrenanlegen bis hin zum Schmerz, den Zähne und Hufe verursachen können. Zäune hingegen – von Menschenhand errichtet - sind in der Natur für Pferde gefährliche Begrenzung, aus denen sie sich im Ernstfall nicht durch Flucht entziehen können.

Bei uns Menschen müssen Pferde außerdem noch andere, natürliche und unnatürliche Grenzmarkierungen kennen- und akzeptieren lernen: Boxen, Weiden, Sättel und Zügel, Gewicht und Schenkel – und vor allem Zaumzeug, Halfter und Gebisse. Aller Umgang mit Pferden bedeutet, sie an diese Begrenzungen zu gewöhnen. Ist das erfolgreich geschehen, dann ist Ausbildung nur noch ein Klacks. Nur wer einst lesen und rechnen gelernt hat, kann später Meister oder Mathematiker, Azubi oder Arzt werden.

Das gleiche gilt für den gesitteten Ausritt, für Drehungen und Wendungen, für Piaffe und Passage: Überall dort, wo der Weg ordentlicher Erziehung verfehlt wurde, kommt übermäßiger Zwang – bis hin zu Gewalt – ins brutale Spiel. Dann werden ebenfalls Grenzen durchbrochen. Doch diesmal durch die Menschen – und die Leidtragenden sind am Ende doch wieder die Pferde.