„Ist das ist tatsächlich Tierquälerei?“

Was ist Tierquälerei bei der Ausbildung von Pferden? Bei einem Besuch in Süddeutschland beobachtete Heinz Welz eine ganz normale Trainingseinheit eines jungen Westerntrainers. Die überraschendes Reaktion seines Freundes nahm Welz zum Anlass, über das Thema genauer nachzudenken

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Von Heinz Welz

Vor ein paar Wochen lud mich ein Freund in Süddeutschland in den Stall ein, wo seine vierjährige Quarterhorse-Stute Jacky ausgebildet wird. Mein Freund, zu dem ich nicht sonderlich viel Kontakt habe, traut sich die Ausbildung selbst nicht zu und scheute auch die lange Anreise zu mir. Außerdem wollte er den Trainingsverlauf bei seinem Pferd selbst regelmäßig und genau beobachten.

Eine Grundausbildung hatte das Pferd dreijährig schon bei seiner Züchterin bekommen. Dieser Ausbildungsschritt sollte das Gelernte festigen und ein wenig weiter führen in Richtung Westerndressur, der so genannten Reining. Bislang hatte die Stute ein Jahr gemeinsam mit den drei anderen Pferden meiner Freunde in deren schöner Offenstallanlage und auf deren Weiden verbracht, unterbrochen nur durch ein paar Einheiten Bodenarbeit.

Der Trainingsstall barg alles, was mein Freund und seine Frau sich als Vorbedingung gewünscht hatten: geräumige Boxen, gute Pflege und Versorgung der Pferde,

planvolles Management der Gestütsleitung und eine kurze Anreise von nur 15 Kilometern. Dazu ein qualifizierter junger Co-Trainer mit USA-Ausbildung und einer Vielzahl von Siegen auf Wettbewerben.
Am Telefon hatte er mir schon mehrfach vorgeschwärmt, dass alles haargenau „passe“. Der junge Trainer habe ein gutes Händchen, er überfordere die Pferde nicht, und die Kunden könnten auch jederzeit beim Training zuschauen.

Das Westerngestüt machte in der Tat einen äußerst gepflegten Eindruck. Dass die annähernd siebzig Pferde fast alle in der Box standen, wundert bei solch einem großen Ausbildungsbetrieb am Ende des regennassen Herbsts nicht. Und auch nicht, dass alle Pferde eingedeckt in ihrer Box standen.

Wir waren für 14 Uhr angemeldet und trafen pünktlich ein. Aus der gut beschallten Halle dröhnte die Musik eines Jugendsenders. Bis auf den Lärm schien die 60 Meter lange Halle jedoch leer.

Erst als wir auf der Suche nachdem Trainer an der

Hallentür über die Bande lugten, sahen wir, dass der junge Mann am anderen Ende der Halle in der Ecke auf einem Pferd saß.

Was ich sah, trieb mir die Zornesröte ins Gesicht: Annähernd drei lange Minuten „bog“ der Trainer das bereits triefnasse Pferd, indem er ständig mit heftigen Impulsen am rechten Zügel riss. Die sporenbewehrten Stiefel lagerten dabei zumindest sehr nahe an den Rippen des armen Pferdes. Mein Freund ich schauten der Prozedur zu.

Irgendwann entfuhr es mir: „Das ist reine Tierquälerei!“ Die Reaktion meines Freundes verblüffte mich und rührte mich zugleich an: „Ist das ist tatsächlich Tierquälerei?“ Aus seinen Worten klang Überraschung und Irritation: „Das macht man doch überall so!“ Und: „Ist das denn so schlimm?“

Stimmt: Derlei Ausbildungsmethoden sind gang und gäbe, und ich habe sie früher auch angewendet. Leider habe ich nie jemanden getroffen, der mir dies auf den Punkt gebracht hätte (außer einer ehemaligen
Die meisten Menschen hören nicht richtig hin

Reitbeteiligung, einem sensiblen Musiker, allerdings ‚ohne Ahnung von Pferden’, den ich damals einfach nicht Ernst genommen hatte).

Also, ist das denn so schlimm? Unsere christlich geprägte Kultur sieht Tiere immer noch nicht als gleichwertige Geschöpfe an mit entsprechenden Gefühlen und Empfindungen. Unsere ellbogen-orientierte Leistungsgesellschaft orientiert sich im Grunde wesentlich am Gesetz des Stärkeren (und wenn er der Stärkere nur aufgrund irgendwelcher Hilfsmittel oder Waffen ist). Und unser Erfolgsdenken schließlich verführt uns dazu, wo immer möglich, unseren Weg zu gehen – ohne viel Rücksicht auf andere.

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Ich erlebe derlei Szenen seit zehn Jahren ständig. In der Regel laufe ich mit Scheuklappen durch Reitanlagen, um das Elend nicht immer wahrnehmen zu müssen. Denn wo ich mich einmische, stoße ich auf Unverständnis oder riskiere den Rauswurf.

Ich versuchte, meinem Freund den Vorwurf an einem Beispiel zu

erläutern. „Im Grund geht es dem Trainer um die Nachgiebigkeit des Pferdes. Nachgiebigkeit zu verlangen, ist o. k, ja sogar notwendig. Ein Pferd, das nicht nachgibt, nicht ‚ja’ sagt, ohne Wenn und Aber, ist eine Gefahr für sich selbst und alle, die ihm begegnen“.

„So weit so klar?“, fragte ich und fuhr fort, nachdem er genickt hatte: „Stell’ Dir nun einmal vor, ich wäre Dein Chef, Dein Lehrer, Dein Vater, Dein Ausbilder oder irgendeine andere Autorität für Dich, und ich stellte Dir eine wichtige Prüfungsfrage. Weil Du aber nicht in meinem Sinn richtig antwortest, fange ich irgendwann an, an deinem Hemd zu zerren, werde lauter bis ich brülle, und am Ende versetze ich Dir vielleicht noch Ohrfeigen. Immer begleitet mit der Wiederholung meiner Aufforderung, nun endlich meine Frage richtig zu beantworten.

Irgendwann, ehe unser „Gespräch“ vollends in brutaler Gewalt endet, raffst Du jedoch vor lauter Panik all Deine Energie zusammen und brüllst mir die richtige Antwort entgegen. Im gleichen Augenblick lasse ich los und sage zufrieden: „Na, endlich, Du kannst es doch!“
Und Du antwortest mir verzweifelt: „Aber das habe ich doch die ganze Zeit schon gesagt. Du hast ja gar nicht richtig hingehört! Du hörst ja meistens nicht richtig hin!!“

Das ist das Problem: Die meisten hören nicht richtig hin, wenn jemand etwas sagt. Und Pferden wird erst recht nicht richtig zugehört. Die sind ja so „groß“, so „stark“, so „stur“, so „büffelig“, so „zickig“, oder was den Leuten sonst noch so einfällt, zu behaupten, wenn sie von Angst getrieben sind, dumm, geldgierig, erfolgshungrig; wenn sie unter Zeitdruck stehen oder unter Leistungszwang.

Klar, es ist etwas von all dem oder alles zusammen. Manchmal kommt auch noch Brutalität dazu. Komplexe werden abreagiert an jemandem, der sich nicht wehren kann. Wie oft sagen Pferde ‚ja’ und niemand hört es. Wie gesagt: Ich erlebe es ständig. „Manche Pferde können aber auch gar nicht ‚ja’ sagen, weil sie die Frage gar nicht richtig verstanden haben“, ergänzte ich noch. „Denn zu jeder guten Antwort gehört eine entsprechend präzise gestellte Frage.“
Gefühl auf Beinen  
„Das sind die Grundregeln guter Kommunikation“, hörte ich mich selbst schon ein wenig laut werden. Mein Freund schien perplex, und ich sagte ihm: „Meist ist ja gar kein böser Wille im Spiel. Was all den Leuten fehlt, ist das Gefühl für den anderen, für dessen Nöte, dessen Bedürfnisse. Meist ist noch nicht einmal ein Gefühl da für dessen Sosein, so wie sie sind.“

Ich musste meinem Freund ein bisschen Zeit geben, darüber nachzudenken, und auch ich musste meine Pulsrate ein wenig senken. Nach ein paar Minuten fuhr ich fort: „Aber all das ist ja auch kein Wunder. Denn die meisten Menschen haben ja nicht einmal ein Gefühl für sich selbst. „Gefühle“, heißt es allenthalben, „sind viel zu kompliziert.“ Männer unterliegen diesem Fehlschluss ein bisschen häufiger als Frauen.

Doch das stimmt gar nicht, dass Gefühle kompliziert sind. Es ist nur die Art und Weise, wie wir Gefühle wahrnehmen, was sie anscheinend so kompliziert
 
 

macht. Deshalb lassen wir sie, wenn sie unangenehm sind, am liebsten gar nicht erst zu. Verdrängung heißt das in der Psychologie. Leider lassen sich Gefühle nicht wirklich verdrängen, sie lassen sich nur aus unserem Bewusstsein entfernen. Tief in uns drin wirken sie weiter und führen zu unseren oft so unsinnigen, brutalen oder verzweifelten Handlungen; am Ende sogar zu Krankheit.

„Ein Pferd“, hat mal jemand gesagt, ist „ein Gefühl auf vier Hufen“. Und Menschen, könnte man ergänzen, sind Gefühle auf zwei Beinen. Dass wir reine Verstandeswesen sind, von diesem Irrglauben vergangener Tage hat sich auch die Psychologie schon längst verabschiedet. Wer Gefühle nicht wahrnimmt, nicht zu seinen eigenen Gefühlen steht, aber auch nicht zu denen anderer, der lebt in Wirklichkeit am Leben vorbei.

Er überlebt, meist eher schlecht als recht in Ängsten, Sorgen,

Nöten und Verzweiflung. Manche tun das auf hohem finanziellem Niveau, manche sind sogar sehr erfolgreich, manche überleben allerdings nur mit großer Klappe. Die „singen“ dann besonders laut im Wald (des Lebens), um ihre Ängste zu übertönen.

Wie viele Erfolgreiche trauen sich nicht, eine (Lebens-)Bilanz aufzumachen und wenn doch, erkennen sie, was sie ihr Erfolg täglich kostet und schon gekostet hat. Und allen ist gemeinsam: Sie machen den anderen (allzu oft) das Leben schwer – Menschen wie Pferden.

„Möglicherweise ist dieser junge Trainer nicht wissentlich brutal, möglicherweise hält es sich sogar für einen Pferdefreund“, sagte ich, um meinen sichtlich geknickten Freund ein bisschen zu trösten. „Denn wir Menschen sind Künstler der Illusion. Wir machen uns das meiste nur vor. Angeführt wird die Illusionisten-Truppe übrigens meistens von selbsternannten ‚Realisten’.“
Liebe oder Elektroschock? 

Die gesamte Pferdeliteratur ist durchzogen von der Forderung: „Du musst Dein Pferd fühlen lernen!“ Schön gesagt. „Genau“, sagte mein Freund, „aber nirgendwo steht drin, wie das denn geht.“

„Das ist ein langer Prozess“, antwortete ich. „Kurz gesagt: Es ist eine Frage von Reifung.“ „Und was bedeutet das nun wieder?“, bohrte er weiter. „Das verlangt eine viel längere Antwort“, entgegnete ich, „sie dauert das ganze Leben lang.“

Mein Freund zog die kalte Hallenluft heftig durch seine Nase und runzelte die Stirn. „Aber ich kann Dir sagen, womit sie beginnt und womit sie endet“, versuchte ich seinem aufkommenden Unmut entgegenzuwirken: „Sie beginnt mit Liebe und sie endet mit Liebe.

Und die Reifung tut manchmal weh, denn Liebe heißt, den anderen so zu nehmen wie er ist, und das fällt manchmal ganz schön schwer, obwohl es die einzig wahre Realität ist, denn was ist denn nicht so wie es ist?

Ein bestätigendes Grinsen überflog das Gesicht meines Freundes. „Und es kommt noch etwas dazu“, fuhr ich fort. „Nur, wenn Du jemanden nimmst, wie er ist, kannst Du ihn wirklich verstehen. Wenn Du ihn so nimmst, wie Du ihn Dir wünschst, wie er von Vorteil für Dich ist, wenn Du ihn aburteilst oder ihn mit Deinem Vorurteil überziehst, dann kapierst Du nichts von ihm. Und Du wirst ihn nie verstehen. Und er Dich nicht. Auseinandersetzungen und Streit sind die Folge." Mein Freund nickte nachdenklich.

Als ich nach Hause kam, lag die Westernreiter-Zeitschrift „Western Horse“ (Ausgabe 12/07) im Briefkasten. Auf Seite 12 wurde ein Artikel angekündigt unter dem Titel „Vice Breaker“ (übersetzt: bricht Unarten). Darin wurde auf zwei Seiten allen Ernstes ein Elektroschockhalsband für Pferde empfohlen. Der Chefredakteur des Magazins und Autor des Artikels ist ein bekannter Buchautor und Pferdeausbilder.

Obwohl das Blatt in der Vergangenheit dem Thema „Pferdeflüsterer“ eher kritisch gegenüberstand, zitierte der Autor ausgiebig den „zurzeit wohl populärsten unter den Pferdeflüsterern in Amerika“, Clinton Anderson, der das Produkt (für wie viele Dollar wohl?) ausgiebig promotet. Natürlich sei der Stromschlag „nicht schmerzhaft“ für das Pferd, „sondern mehr eine unangenehme Überraschung“. (Gut zu wissen, wie ja auch ein Kopfschuss dem Vernehmen nach keinerlei Schmerzen verursacht, also quasi human ist).

Am Ende des langen Artikels wird nicht nur Werbung für die Firma gemacht mit Nennung der Bezugsquelle, sondern auch darauf hingewiesen, dass man die „Schlagstärke in 20 Stufen variieren bzw. anpassen“ könne, dass die Fernbedienung an die 800 Meter weit reiche und auch „durch Stall- und Hängerwände“ dringe.

Ich habe den Artikel, mal meinem Freund gemailt.